Digitalisierung im Arbeitsmarkt: Raus aus der Opferrolle

Der Mensch sieht sich gerne als Opfer der Digitalisierung – und glaubt, er sei modernen Technologien etwa auf dem Arbeitsmarkt schutzlos ausgeliefert. Warum es ein Umdenken braucht.

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„Durch den nächsten technologischen Wandel und die Digitalisierung gehen weltweit mehr als sieben Millionen Jobs verloren“, schreibt der Tagesanzeiger im Januar 2016. „Die Digitalisierung bedroht 100'000 KV-Jobs“, titelt 20 Minuten im November 2016 und die Handelszeitung führt genau ein Jahr früher für jede Branche auf, wie gross das Risiko ist, dass sie bald von Robotern übernommen wird.

Was bei den genannten Zeitungsartikeln und den darin aufgeführten Zitaten von Politikern, Unternehmerinnen und Forschenden auffällt: Sie schreiben dem einzelnen Menschen eine passive Rolle in der Entwicklung zu. Sie treffen Aussagen, was die Digitalisierung mit ihm „macht“. Es scheint klar: Der Mensch wird in einigen Jahrzehnten vor sich hinvegetieren. Sein Prozessor namens Gehirn wird von Millionen von Chips mühelos besiegt. Seine Hardware, die ihn durch Kämpfe mit Mammuts, den Bau riesiger Kathedralen, die Fahrt über den Atlantik, die Arbeit an der Schweissmaschine und das Gedränge in der S-Bahn getragen hat, ist nicht mehr gefragt.

Wir können den zukünftigen Arbeitsmarkt mitgestalten

Doch Jobs gehen nicht einfach „verloren“ – dahinter steht eine ganze Kette von menschlichen Entscheidungen. Der Arbeitsmarkt und das Profil der einzelnen Stellen werden sich zwangsläufig verändern. Diese Entwicklung kann niemand aufhalten. Aber weil wir bereits heute ahnen, dass sich unsere Verdienstmöglichkeiten, wie wir sie heute kennen, sehr bald verändern werden, können wir viel mehr tun als abwarten: uns beispielsweise vorbereiten auf eine Welt, in der ein grosser Teil der heute bezahlten Arbeit von Maschinen erledigt wird. So, dass wenn dieser Fall eintritt, die Mehrheit der Menschen weiterhin materiell abgesichert ist und einer erfüllenden Tätigkeit nachgehen kann. Dass möglichst viele Menschen mitdenken und Einfluss nehmen auf die Entwicklungen im Arbeitsmarkt, dient nicht nur unserem Portemonnaie, sondern ist dringend nötig.

Das Phänomen Digitalisierung ist etwas, das auch sehr gebildete Menschen nicht in seiner ganzen Reichweite verstehen. Kein einzelner Mensch erfasst und begreift alle Komponenten und Auswirkungen. Gerade weil die fortschreitende Digitalisierung jedoch so weitgreifende gesellschaftliche Folgen hat, ist es wichtig, dass jeder und jede seine jeweiligen Fähigkeiten einbringt, um diese Folgen positiv zu gestalten. Wer sich mit den technischen Aspekten eines Haushaltsroboters auskennt, weiss möglicherweise weniger über die sozialen Komponenten – etwa, wie sich alte Menschen fühlen, wenn sie 24 Stunden von einem Roboter umgeben sind, statt von einem Menschen, mit dem sie auch einen Kaffee trinken und plaudern können. Sie müssen deshalb daran erinnert werden, dass menschliche Interaktion sehr wichtig ist, um die Lebensqualität von älteren Menschen hochzuhalten und dass sie mit höherer Zufriedenheit auch weniger medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Deshalb dürfen Jobs, die diese Interaktion beinhalten, nicht ersatzlos dem technologischen Wandel weichen.

Echte Zukunftsstrategien brauchen gesellschaftlichen Input

Natürlich ist die Zukunft nicht planbar und wir könnten wichtige Entwicklungen komplett übersehen oder falsch einschätzen. Es ist allerdings keine echte Alternative, sich deshalb einfach zu ergeben und still alles hinzunehmen. Denn je mehr und intensiver sich Menschen in Entwicklungen einbringen, desto grösser ist die Chance, dass keine zentrale Komponente vergessen geht.

Es ist deshalb eine schwache Leistung von Entscheidungsträgern aus der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sich allein dazu zu äussern, welche negativen Auswirkungen die Digitalisierung unter anderem auf den Arbeitsmarkt haben könnte. Wer ernsthaft in die Zukunft denkt, und damit beauftragen wir etwa CEOs, Nationalräte und Ständerätinnen sowie Professorinnen und Rektoren von Hochschulen mit ihren Ämtern, bemüht sich, Chancen für eine positive Entwicklung für die Gesellschaft wahrzunehmen. Das hiesse in diesem Fall, Menschen dazu aufzufordern, ihr Wissen und ihre Wünsche einzubringen, um den zukünftigen Arbeitsmarkt zu gestalten.

Podcast

Olivia Meier

Redaktion

Sprecher

Franxini-Projekt, Leiter Hive

Autor*innen

Autor*in

Kommunikation

Anina Steinlin hat ihren Master am Institut für Theoretische Physik an der Universität Bern abgeschlossen und einen CAS in Wissenschaftskommunikation erlangt. Sie war an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt als Mitarbeiterin des Direktoriums tätig, als IT-Projektleiterin in der Privatwirtschaft und arbeitet als freie Journalistin.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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