Warten auf ein modernes Arbeitsrecht

Immer mehr Menschen wünschen sich eine Flexibilisierung der Arbeitsformen und Arbeitszeiten, denn das Arbeitsrecht hinkt der Realität zu oft hinterher. Die politischen Entscheidungsträger*innen haben erkannt, dass es arbeitsrechtliche Anpassungen braucht. Doch der Prozess verläuft eher schleppend.

Der technologische und gesellschaftliche Wandel führt zu flexibleren Arbeitsformen und Arbeitszeiten. Dank der Digitalisierung können viele Arbeitnehmende zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten arbeiten [1]. Ganze Arbeitsplatzmodelle – gerade im Dienstleistungssektor – sind lediglich an den Zugang zum Internet gebunden. Dieser Wandel erleichtert es Menschen, neben der Arbeit eine Weiterbildung zu absolvieren oder Beruf und Familie flexibler miteinander zu vereinbaren. Auch kann dieser Wandel dazu beitragen, die Gleichstellung der Geschlechter bei den Löhnen und Karrieremöglichkeiten zu erreichen [2].

Viele Arbeitnehmende verlangen schon lange mehr Spielraum bei der Einteilung ihrer Arbeitszeiten und wünschen sich mehr Möglichkeiten zu alternativen Arbeitsgestaltungen wie Gleitzeiterfassung, Homeoffice, Familienzeit sowie Sabbaticals. Immer mehr Leute bevorzugen zudem die selbstständige Projektarbeit gegenüber dem Arbeiten in starren Hierarchien bei einem einzigen Arbeitgeber [3]. Seit dem Ausbruch von COVID-19 leistet Möglichkeit des Homeoffice einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie und zur Erhaltung der Produktivität. Die Flexibilität hat aber auch ihre Schattenseiten: Insbesondere von Führungskräften wird oft erwartet, auch ausserhalb der Arbeitszeiten telefonisch erreichbar zu sein und auf dringende E-Mails zu antworten. Das birgt die Gefahr, dass die Grenzen zwischen effektiver Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen und die gesetzlichen Pausen und Ruhezeiten nicht eingehalten werden.

Angesichts dieser Entwicklungen stellen sich verschiedene Herausforderungen bei der Anpassung des Arbeitsrechts. Im Laufe der Zeit ist das Arbeitsrecht immer wieder an technologische und gesellschaftliche Entwicklungen angepasst worden. Die heute geltenden Regeln zu den Arbeitszeiten sind vor allem im Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG) [4] geregelt. Das Gesetz ist 1964 in Kraft getreten und die darin enthaltenen Arbeits- und Ruhevorschriften sind auf die damals noch weit verbreiteten industriellen Produktionsprozesse und Gegebenheiten zugeschnitten. Der technologische und gesellschaftliche Wandel – insbesondere die Automatisierung in der Industrieproduktion – hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Beschäftigungsverlagerung vom Industrie- zum Dienstleistungssektor geführt [5]. Das Arbeitsgesetz trägt den heutigen Bedürfnissen nach Flexibilität in der Arbeitsgestaltung, die es vor allem bei Berufen im Dienstleistungssektor gibt, kaum mehr Rechnung.

Zur Veranschaulichung: Ein Vater, der seinen Arbeitsplatz um 16 Uhr verlässt, um mit seiner Tochter nach der Kita Zeit zu verbringen und danach um 22 Uhr noch eine Stunde lang geschäftliche E-Mails beantwortet, darf aufgrund der geltenden Ruhezeitregelung am nächsten Tag erst um 10 Uhr wieder arbeiten. Dieses Beispiel zeigt auf, dass die strikte Einhaltung des Gesetzes schwierig sein kann, was oft in einem Nichtbeachten der gesetzlichen Vorschriften mündet.

Die politischen Entscheidungsträger*innen haben zwar erkannt, dass die Digitalisierung und der gesellschaftliche Wandel das Arbeitsrecht vor neue Herausforderungen stellt [6]. Allerdings verlaufen die arbeitsrechtlichen Anpassungen eher schleppend. Immerhin sind im Parlament in den letzten Jahren verschiedene parlamentarische Initiativen eingereicht worden, welche eine Modernisierung des Arbeitsrechts anstreben. So verlangt die parlamentarische Initiative mit dem Titel „Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle“ eine Flexibilisierung der Arbeit ohne Erhöhung der Arbeitszeiten oder Beeinflussung der Schutzbedürfnisse [7]. Anfänglich wurde eine Gesetzesrevision vorbereitet, welche eine flexiblere Verteilung der Arbeit über den Tag ermöglicht hätte. Auch wären zumindest für gewisse Arbeitnehmende – etwa mit Vorgesetzten- oder Spezialistenfunktion – eine flexiblere Einteilung der Arbeit über den Tag und über das Jahr möglich geworden. Mittlerweile wurde jedoch entschieden, dass das Anliegen einer branchenspezifischen Arbeitszeitflexibilisierung im Zuge einer Verordnung umgesetzt werden solle statt durch eine Gesetzesrevision. Auf diesem Weg sollen die Sozialpartner besser miteinbezogen werden können.

Eine weitere parlamentarische Initiative trägt den Titel „Mehr Gestaltungsfreiheit bei der Arbeit im Homeoffice” [8]. Der Initiativtext setzt sich mit der zunehmenden Möglichkeit von Homeoffice sowie dem Umstand auseinander, dass das Arbeitsgesetz den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden nicht genügend Rechnung trägt, weil es primär auf die Arbeit im Industriebetrieb abzielt [9]. Der Initiativtext schlägt eine Anpassung des Arbeitsgesetzes vor, die den zulässigen Zeitraum der Arbeitszeit für Arbeitnehmende von 14 Stunden auf 17 Stunden erhöht. Dies soll allerdings nur für solche Arbeitnehmende gelten, welche ihre Arbeitszeiten vorwiegend selbst festsetzen können. Sobald ein Vorschlag für eine Gesetzesrevision durch die parlamentarische Kommission festgelegt worden ist, wird es eine öffentliche Vernehmlassung geben.

Der schwerfällige Prozess bei der Modernisierung des Arbeitsrechts zeigt, dass ausführliche Diskussionen notwendig sind, um die Interessen von Unternehmen und Arbeitnehmenden in den verschiedenen Sektoren miteinzubeziehen und das Arbeitsgesetz so zu revidieren, dass es den unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung trägt [10]. Wichtig ist, dass möglichst bald eine Lösung gefunden wird und die gesetzlichen Vorschriften wieder näher an der Realität in der Arbeitswelt liegen. Andere Länder zeigen, dass das geht: Seit 2015 gibt es etwa in den Niederlanden einen Rechtsanspruch auf Homeoffice, wobei der Arbeitgeber Heimarbeit aus betrieblichen Gründen ablehnen kann [11].

Referenzen

[1]

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hat ergeben, dass bei rund 40 Prozent der Beschäftigten eine Tätigkeit von zu Hause aus theoretisch gut möglich wäre. Gemäss dieser Studie möchten zudem die meisten dieser Beschäftigten gerne von zu Hause aus arbeiten, was allerdings häufig am Widerstand der Arbeitgeber scheiterte: Brenke, K. (2016): «Home Office: Möglichkeiten werden bei weitem nicht ausgeschöpft“, DIW Wochenbericht, No. 5, 2016.

[2]

Vgl. etwa Bertrand, M. (2018) "Coase Lecture – The Glass Ceiling," Economica, London School of Economics and Political Science, vol. 85(338), 205-231; Angelici, M. und P. Profeta (2020). "Smart-Working: Work Flexibility without Constraints," CESifo Working Paper Series 8165, CESifo Group Munich.

[3]

Vgl. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Executive Summary: Flexible Arbeitszeiten in der Schweiz, Auswertung einer repräsentativen Befragung der Schweizer Erwerbsbevölkerung, Bern 2012, <https://www. newsd.admin.ch/newsd/ message/attachments/27887.pdf> (Stand: 27. November 2019).

[4]

Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel vom 13. März 1964 (Arbeitsgesetz, ArG; SR 822.11).

[5]

Vgl. Fondation CH2048, Digitalisierung und Arbeitsmarktfolgen, Metastudie zum Stand der Literatur und zu den Entwicklungen in der Schweiz, Luzern 2017, S. 17 ff. <https://www.ch2048.ch/pics/files/Polynomics_ Arbeitsmarktfolgen_Bericht_20170621b.pdf> (Stand: 4. November 2019).

[6]

Vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 17. April 2019 zum Bericht der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates betreffend 16.414 Pa.Iv. „Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle“, BBl 2019 3965 ff.

[7]

Vgl. zum Ganzen Parlamentarische Initiative 16.414 von Graber Konrad „Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle” eingereicht am 17. März 2016.

[8]

Vgl. zum Ganzen Parlamentarische Initiative 16.484 von Burkart Thierry „Mehr Gestaltungsfreiheit bei der Arbeit im Homeoffice” eingereicht am 1. Dezember 2016.

[9]

Vgl. Fussnote 6.

[10]

Eine ausführliche Darstellung der laufenden Vorschläge zur Revision des Arbeitsrechts ist in diesem Arbeitspapier zu finden: Meier, Mitric, Rabozzi (2020): “Mach mal Pause!” Arbeitszeiten in der digitalen Arbeitswelt <https://www.reatch.ch/sites/default/files/arbeitsrecht_papier.pdf> (Stand 31. März 2020).

[11]

Vgl. etwa „Niederlande schaffen Recht auf Heimarbeit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 2015.

Autor*innen

Autor*in

Projektleiter «Wirtschaft und Arbeit im Wandel», Blog-Team

Guido Baldi ist Mitglied von Reatch und beschäftigt sich insbesondere mit Geldpolitik, Wirtschaftswachstum und dem Wandel der Arbeit. Guido lehrt und forscht am Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Bern, an der Hochschule Luzern sowie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Autor*in

Kaja Meier verfügt über einen MLaw der Universität Bern und arbeitet als juristische Mitarbeiterin im Bereich Migration.

Autor*in

Tanja Mitric verfügt über einen MLaw der Universität Bern und absolviert zurzeit ein Rechtspraktikum bei der KESB.

Timothy Rabozzi studiert Rechtswissenschaften im Master mit Schwerpunkt öffentliches Recht. Er ist Mitglied der Projektgruppe Zukunft der Arbeit von Reatch und arbeitet auf dem Generalsekretariat der FDP.Die Liberalen.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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